Die Freiheit der Vorsichtigen

(Der Tagesspiegel, 26.6.2022)

Nils Althaus und Adriano Mannino

In der Debatte um Coronaimpfungen schauen alle auf die Impfunwilligen. Es gibt aber jene, die gerne mehr Pikser hätten. Bisher werden sie ausgebremst. Das sollte sich ändern.

Nach zwei Jahren des gesellschaftlichen Ausnahmezustands scheint der Schrecken der Pandemie zu verblassen. Die Infektionszahlen, die uns immer wieder in Alarmzustände versetzt haben, verkommen zum Hintergrundrauschen. Masken müssen nur noch im öffentlichen Personenverkehr getragen werden und die Quarantänepflicht für Kontaktpersonen entfällt. Was für viele lang ersehnte Schritte in die Freiheit sind, ist für andere das Gegenteil: Immunsupprimierte, vorerkrankte oder schlicht vorsichtige Menschen müssen sich nun noch besser schützen und werden dadurch in ihrer Freiheit stärker eingeschränkt als zuvor. 

Man könnte nun die alten Argumente für die Notwendigkeit strengerer Schutzmaßnahmen anführen und diskutieren, doch die Meinungen darüber sind längst gemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Deutschland in Zukunft eine hohe Viruszirkulation zulassen, solange dem Gesundheitssystem nicht erneut eine Überlastung droht.

Damit rückt die Frage in den Fokus: Gibt es während eines hohen Infektionsgeschehens Möglichkeiten, besonders gefährdete und vorsichtige Menschen vor Covid-19 zu schützen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Die Möglichkeiten sind begrenzt. Doch eine Maßnahmenkategorie wurde bisher nicht ausgeschöpft, obwohl sie den Schutz optimieren könnte: zusätzliche und frühere Impfungen.

Begrenzt sind die Möglichkeiten deshalb, weil die meisten Schutzmaßnahmen nur dann gut wirken, wenn sie von hinreichend vielen anderen Menschen auch befolgt werden. Dies gilt für Test-Trace-Isolate-Quarantine, für die Benutzung der Warn-App und am offenkundigsten für das Tragen von Masken, die gegen Virus-Emission hochwirksam sind, gegen Virus-Immission dagegen weit weniger. 

Andere Schutzmaßnahmen wirken zwar auf individueller Ebene gut, gehen jedoch mit gewichtigen Nachteilen einher. Dauerhaftes Home-Office, weitgehender Verzicht auf Indoor-Veranstaltungen oder gar die umfassende physische Isolation bedeuten tiefe Einschnitte in die individuelle Freiheit. 

Ganz anders verhält es sich bei medizinischen Maßnahmen. Impfungen und therapeutische Interventionen sind in der Regel weder individuell einschneidend noch erfordern sie eine gesamtgesellschaftliche Kooperation. Jede Impfung und jede Behandlung schützt in erster Linie die behandelte Person selbst.

Damit bieten sich während eines hohen Infektionsgeschehens medizinische Maßnahmen als zusätzlicher Schutz für gefährdete und vorsichtige Menschen besonders an. Ausgerechnet hier wurde deren Freiheit bisher jedoch stark eingeschränkt. Vorsichtige Menschen tragen lieber einmal zu oft Maske oder verzichten einmal mehr auf eine physische Veranstaltung, doch bei der Impfung dürfen sie nicht frei entscheiden. Wollen sie sich lieber einmal zu viel impfen lassen, steht ihnen die Restgesellschaft im Weg. Menschen unter 70 Jahren, die weder besondere Immunschwächen haben noch in Pflegeberufen arbeiten, fanden und finden kaum ein Angebot für einen zweiten Booster.

Dabei wäre auch in puncto Impfung mehr höchstwahrscheinlich mehr. Bisher hat jede zusätzliche Impfdosis den Schutz sowohl vor schwerer Erkrankung als auch vor Infektion verbessert. Was konkret die vierte Impfung betrifft, deuten Studien aus Israel längst auf eine wesentlich tiefere Mortalität bei den über 60-Jährigen hin: Im Vergleich mit den dreifach Geimpften war die Mortalität um den Faktor vier reduziert. Ein beträchtlicher Effekt ist auch bei den über 50-Jährigen wahrscheinlich. Es ist zudem nicht davon auszugehen, dass dieser positive Trend bei der fünften oder sechsten Dosis abrupt enden wird. Vermutlich sinkt der Grenznutzen mit jeder weiteren Impfung, doch verschwinden wird er kaum. Auch die an Omikron angepassten Impfstoffe von Biontech und Moderna lassen keine andere Entwicklung erwarten, da die zugrundeliegende Technologie identisch bleibt.

Kann man sich zu oft impfen lassen? Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) schreiben in ihren Empfehlungen explizit, dass neue Risiken nur aufgrund zu geringer zeitlicher Abstände zwischen Impfdosen entstehen können, nicht aber aufgrund zu vieler Impfdosen. Untersuchungen von fälschlich verabreichten Zusatzdosen mehrerer unterschiedlicher Impfstoffe ergaben keinen höheren Anteil an unerwünschten Impfwirkungen als bei regulären Dosen. Marco Cavaleri, Chef der Impfabteilung der EU-Arzneimittelbehörde EMA, gab zunächst zwar zu Protokoll, dass zusätzliche Booster zu einer „Ermüdung der Bevölkerung“ führen könnten, doch inzwischen hat die EMA eine 4. Dosis für über 80-Jährige zugelassen. Forscher wie Holden Maecker, Professor für Immunologie und Mikrobiologie an der Universität Stanford, konnten zudem auch für jüngere Altersgruppen keine wissenschaftlichen Daten zutage fördern, die auf eine Erschöpfung des Immunsystems hinweisen würden.

Warum also erlauben wir jeweils nur das absolute Minimum an empfehlenswerten Impfdosen? Wir bevormunden damit all jene Menschen, die einer anderen persönlichen Risikoeinschätzung folgen wollen. Dieser einschneidende Eingriff in die Autonomie der Person mag unter normalen Umständen gerechtfertigt sein, doch im Pandemiefall ist er fragwürdig. Im Normalfall beruhen ähnliche Verbote auf statistisch bestmöglich abgesicherten Informationen zur Wirksamkeit und den Risiken von Arzneimitteln. Bezüglich der Covid-Impfungen ist diese nahezu zweifelsfreie Absicherung jedoch immer schlechter zu leisten, da die Virusvarianten ansteckender werden und die Infektionswellen immer schneller durch die Bevölkerung laufen. Wenn die Wirksamkeit der Impfung erst dann zu ermitteln ist, wenn die Welle bereits wieder abflacht, drängt sich risikoethisch die Strategie auf: lieber impfen und im Nachhinein erfahren, dass der Piks wirkungslos war, als nicht impfen und später erfahren, dass er gewirkt hätte. Ganz besonders gilt dies dann, wenn die Nebenwirkungen zusätzlicher Impfungen aller Wahrscheinlichkeit nach vernachlässigbar sind.

Verzerrt wird unsere Risikoeinschätzung dabei unter anderem durch den sogenannten Unterlassungsfehler (Omission Bias). Risiken und Schäden, die uns aus einer aktiven Handlung erwachsen, gewichten wir psychologisch viel höher als Risiken und Schäden durch Unterlassung. Die Unterlassung einer zusätzlichen Impfung kann bei hohen Inzidenzen jedoch beträchtliche Risiken mit sich bringen. Mehrfachinfektionen sind nicht empfehlenswert – und schlechter erforscht als Mehrfachimpfungen. Die Krankheitslast insbesondere durch Post-Covid und Long-Covid kann gerade bei jüngeren Menschen, die Jahrzehnte an Lebensqualität zu verlieren haben, erheblich ausfallen. 

Welches Risiko letztlich aber schwerer wiegt, sollte im liberalen Rechtsstaat jeder urteilsfähige Mensch für sich selbst entscheiden können. Die Risiken der Impfung betreffen nicht die Gesundheit Dritter, sondern die Gesundheit der impfwilligen Person selbst, weshalb sich Dritte zurückzuhalten haben. Bei der Entscheidung etwa, eine Risikosportart auszuüben, ist dies ebenso.

Unbestritten ist freilich, dass entsprechende Verbote bei manchen Impfstoffen wohlbegründet sind. Erstens können einige Vektorimpfstoffe eine Immunität gegen den Vektor (das „Taxi“ des Wirkstoffs) auslösen und bei mehrmaliger Verabreichung ihre Wirkung verlieren. Zweitens ist eine Rationierung sinnvoll, wenn der Wirkstoff nicht in hinreichenden Mengen verfügbar ist. Und drittens können zu häufige Auffrischungsimpfungen die sogenannte Affinitätsreifung der Antikörper unterbinden, welche deren Spezifität und Wirksamkeit erhöht. 

Die ersten beiden Einwände sind für unsere Debatte nicht einschlägig. Die mRNA-Impfstoffe sind vektorfrei und müssen aufgrund der eingebrochenen Nachfrage nun regelmäßig vernichtet werden. Die potenzielle Unterbrechung der Affinitätsreifung spricht einen relevanten Einwand an, der allerdings gegen den zu erwartenden Nutzen zusätzlicher Impfungen abzuwägen ist. Jede weitere Impfung erhöht während eines gewissen Zeitintervalls den Antikörperspiegel und damit den Schutz vor Infektion. Abhängig davon, wie robust die Immunantwort auf die ersten Impfungen ausgefallen ist, kann dieser Vorteil klar überwiegen. Außerdem lässt sich dieser Einwand mit einer sinnvollen Empfehlung zum zeitlichen Mindestabstand zwischen Impfdosen entkräften.

Dass vernünftige Menschen bezüglich der Covid-Impfung zu unterschiedlichen Risikoeinschätzungen gelangen können, zeigt auch der Blick auf andere Länder. Israel etwa hielt die Vorteile der Biontech-Impfung sehr früh für hinreichend sicher, während andere Länder die Daten zur israelischen Impfkampagne abwarteten. Auch die Einschätzungen zu den Grippeimpfstoffen divergieren im Übrigen: Die Stiko empfiehlt die Grippeimpfung nur für über 60-Jährige und Risikopersonen, während das amerikanische Pendant (CDC) die Impfung allen Bevölkerungsgruppen außer Babys unter sechs Monaten empfiehlt. Wenn Staaten und Expertengremien zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, sollten Individuen dies im vernünftigen Rahmen auch dürfen.

Nicht zuletzt könnten zu hohe Kosten gegen häufigere Impfungen sprechen, doch die Impfstoffe sind äußerst günstig (rund zwanzig Euro pro Dosis) und die vermiedenen Krankheits- und Long-Covid-Fälle würden die volkswirtschaftlichen Kosten netto eher senken als erhöhen.

Insgesamt drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Impfwilligen unzulässig bevormundet werden. Während die Diskussion um eine mögliche Impfpflicht hohe Wellen geschlagen hat, wurde der gesetzliche Zwang zur „Wenigimpfung“ kaum zur Kenntnis genommen, obwohl er längst bestand. Es ist prinzipiell möglich, diesen Zwang durch das Instrument des Off-Label-Use zu umgehen, wie es in Wien an der „Impfstraße“ zur Anwendung kam. Doch deutschlandweit finden sich nur wenige Praxen, die solche Impfungen durchführen. Im vergangenen Herbst nahmen viele Eltern lange Fahrten zu Off-Label-Praxen in anderen Regionen in Kauf, während in den USA bereits Hunderttausende Kinder geimpft worden waren. Ein permanentes, niederschwelliges Off-Label-Angebot mit einer vernünftigen Höchstgrenze an Impfungen pro Jahr (vielleicht drei oder vier) wäre für viele Menschen ein Segen. Dieses Angebot entspräche auch einem fairen Minimalkompromiss, wenn andere Schutzmaßnahmen fallen, während die Inzidenzen hoch bleiben.

Nicht zuletzt ist im weiteren Pandemieverlauf eine liberalere Handhabung auch für künftige medizinische Schutzmaßnahmen zu prüfen, seien sie präventiver oder therapeutischer Art. Die stark eingeschränkte Freiheit der Vorsichtigen verpflichtet uns dazu.