(Auszug aus dem Exposé meines geplanten Buchs, 15.4.2024)
Gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht leicht zu fassen. Es existieren zahlreiche Vorschläge, welche Kriterien ihn am besten abbilden: die Einhaltung konkreter Pflichten oder die Achtung entsprechender Rechte (Deontologie), die Summe an Glück minus Leid (Utilitarismus), die gerechte Verteilung von Gütern (Egalitarismus), die gleiche soziale Anerkennung (Kontraktualismus) und viele weitere mehr. Ein Kriterium aber hat bisher nicht die Beachtung erfahren, die ihm gebührt: das individuelle und kollektive Ausmaß unerträglichen Leids.
Leiderfahrungen können so gewichtig sein, dass sie gar nicht oder nur mit größter Vorsicht gegen anderes – Güter und Übel aller Art wie etwa erträgliches Leid – abgewogen werden sollten. Leidformen, die in diese Kategorie fallen, nennen wir absolutes Leid (AL). Die Erscheinungsformen absoluten Leids können sehr vielfältig sein. Die stärksten physischen Schmerzen wie Cluster-Kopfschmerzen oder jene der Trigeminus-Neuralgie (auch “Selbstmordkrankheit” genannt) können bereits nach wenigen Sekunden unerträgliche Qualität erreichen. Andere Krankheiten wie Krebs oder Fibromyalgie lösen typischerweise Schmerzen geringerer Intensität aus, die jedoch aufgrund ihrer zermürbenden Dauerhaftigkeit nach längerer Zeit unerträglich werden können. Psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen werden als mindestens ebenso schlimm wie physische Schmerzen empfunden, wenn sie einen gewissen Schweregrad erreicht haben. Absolutes Leid kann aber nicht nur durch Krankheiten ausgelöst werden, sondern prinzipiell durch alle Formen der Personenschädigung, sofern sie gravierende individuelle Auswirkungen haben. Dazu gehören auch Unfälle, Selbstverletzungen sowie verschiedene Formen der physischen und psychischen Gewalt. Letztere wird nicht selten aufgrund ihrer sozialen Dimensionen (etwa des Gefühls der Demütigung oder des Ausgeliefertseins) als schwerwiegend wahrgenommen, selbst wenn die Schmerzen an sich eine erträgliche Intensität aufweisen. Ferner ist es möglich, dass Faktoren im Einzelnen die Grenze des Erträglichen zwar nicht zu überschreiten vermögen, als Kombination aber absolutes Leid hervorrufen. Bei Menschen, die im hohen Alter Sterbehilfe in Anspruch nehmen, ist dies ein besonders typisches Szenario; zahlreiche Widrigkeiten, die sich im Laufe der Jahre akkumuliert haben und irgendwann das Leben als nicht mehr lebenswert erscheinen lassen. Sterbewünsche können ein allgemeiner Hinweis auf absolutes Leid sein, wobei dies nur gilt, wenn sie dauerhaft und wohlerwogen sind. Weiterer Verdacht auf absolutes Leid besteht dann, wenn das Leid die Aufmerksamkeit fast vollständig dominiert oder eine Verbesserung des Zustands unrealistisch erscheint. Allen angeführten Beispielen gemeinsam ist, dass die betroffene Person selbst das Leid als besonders gravierend erlebt – ungeachtet der genauen Ursachen. Nach der prozeduralen Definition, gemäss welcher absolutes Leid nicht gegen anderes abgewogen werden sollte, führen uns diese Überlegungen nun zu der substanziellen Definition: Leid ist dann absolutes Leid, wenn die davon betroffene Person keine (oder fast keine) stärkere Präferenz besitzt als die Präferenz, das Leid zu beenden oder zu vermeiden, und wenn sie es als “unerträglich” oder “überwältigend” empfindet. Liegt nur einer dieser beiden Faktoren vor, ist absolutes Leid zwar nicht ausgeschlossen, aber wesentlich weniger wahrscheinlich. Sind beide abwesend, handelt es sich “nur” um relatives Leid.
Der Vorrang absoluten Leids lässt sich aus unterschiedlichen Positionen heraus begründen. Einerseits findet er sich empirisch in den “absoluten” Präferenzen von Menschen wieder, die einen unumstößlichen Sterbewunsch äußern. Ebenso absolut ist die Präferenz vieler Folteropfer, die alles tun, was von ihnen verlangt wird, wenn sie dadurch ihre Höllenqualen beenden können. Nichts scheint aus der Sicht dieser Menschen von höherem Wert als die Vermeidung dieses Leids, weder ihr eigenes Leben noch irgendein anderes Gut. Will man diesen Präferenzen im Rahmen der persönlichen Freiheit Rechnung tragen, ergibt sich folgerichtig das Konzept des absoluten Leids.
Auch aus der Außenperspektive spricht vieles für eine kategorische Gewichtung absoluten Leids. Besonders deutlich wird das, wenn es um Individuen geht, die noch gar nicht existieren. Indem wir Einfluss nehmen, wie groß oder klein Populationen werden und wie sie zusammengesetzt sind, beeinflussen wir auch das Ausmaß absoluten Leids. Ursula Le Guins Kurzgeschichte Die Omelas den Rücken kehren beschreibt die fiktive Stadt Omelas, einen paradiesischen Ort, dessen Bewohner:innen ein Leben voller Freude, Kunst und Harmonie genießen. Jedoch beruht das Glück der Stadt auf einem dunklen Geheimnis: Das Wohlergehen aller hängt vom ewigen Leiden eines einzigen missbrauchten Kindes ab, das eine erbärmliche Existenz fristet. Es lebt allein in einem fensterlosen Kellerraum eingesperrt, leidet an Hunger und ist an Gesäß und Oberschenkel mit eitrigen Wunden übersät, die von den eigenen Exkrementen stammen, in denen es sitzen muss. Die Bürger von Omelas wissen von diesem Kind und akzeptieren seine Misshandlung als notwendiges Übel, da ihr eigenes Glück auf dem Spiel steht.
In Le Guins Geschichte existiert Omelas bereits, doch was, wenn es die Stadt noch nicht gäbe? Sollten wir Omelas erschaffen, wenn wir könnten? Vertritt man die Position, dass gravierendes Leid gegen anderes abgewogen werden darf, müsste man begeistert sein von dieser Möglichkeit. Die Summe des Glücks abertausender Einwohner:innen ist schließlich um ein Vielfaches größer als die Summe des Leids eines einzelnen Kindes. Und doch könnten die meisten von uns wohl nicht hinter dem Urteil stehen, dass die Erschaffung eines derart erbärmlichen Lebens in Kauf genommen werden darf, um glückliche Existenzen zu ermöglichen. Ein Erklärungsansatz dafür liegt in der populationsethischen Asymmetrie, die Jan Narveson mit dem vielzitierten Slogan “We are in favour of making people happy, but neutral about making happy people” zusammengefasst hat. Unglückliche Wesen zu erschaffen ist moralisch schlecht, glückliche Wesen zu erschaffen ist hingegen moralisch neutral. Warum sollte das so sein? Eine mögliche Begründung liegt in der darunterliegenden Asymmetrie der Beschwerde: Wird ein glückliches Leben nicht erschaffen, gibt es niemanden, der dagegen Beschwerde einlegen kann (er oder sie wurde ja eben nicht erschaffen). Wird ein unglückliches Leben gezeugt, kann die Person eine begründete Beschwerde gegen die Zeugungsentscheidung anbringen, da sie ja jetzt existiert und zwar in einem unglücklichen Zustand. Absolutes Leid wie jenes des gefolterten Kindes in Omelas sollte nicht mit der Erschaffung glücklicher Menschen aufgewogen werden, ungeachtet ihrer Anzahl und der Intensität ihres Glücks. Diese Haltung teilen in Le Guins Kurzgeschichte jene Bürger:innen, die sich entscheiden, an dem Unrecht nicht weiter teilzuhaben und Omelas trotz der paradiesischen Zustände den Rücken zu kehren – The Ones Who Walk Away from Omelas.
Würden wir Omelas nicht erschaffen, sollten wir erst recht skeptisch sein, wenn es sich um unsere reale Welt handelt. Das irdische Leid steht sowohl absolut wie auch relativ gesehen auf einer völlig anderen Stufe. Allein an Unterernährung beispielsweise leidet weltweit beinahe jede zehnte Person, an Fibromyalgie ungefähr jede siebzehnte. Jedes Jahr wird eine von sechsunddreißig Frauen Opfer sexueller Gewalt und jedes elfte Mädchen sowie jeder dreiunddreißigste Junge wird in seinem Leben zu Geschlechtsverkehr gezwungen. Rechnen wir andere verbreitete AL-Quellen wie übertragbare Krankheiten, Kriege oder häusliche Gewalt dazu, wird deutlich, dass unsere Welt keine gute Analogie zu Omelas ist, sondern in jeglicher Hinsicht um ein Vielfaches schlimmer. Ihre Existenz zu beenden stellt jedoch keine Lösung für das Problem bestehenden absoluten Leids dar (nicht zuletzt, da fast alle existierenden Menschen eine starke Präferenz haben, weiter zu leben).
Was wir uns hingegen vornehmen können, ist, AL-belastete Welten nicht zusätzlich zu vergrößern. Dadurch werden keine bestehenden Präferenzen verletzt und auch kein anderweitiges schweres Leid geschaffen. Stattdessen wird absolutes Leid in großer Zahl verhindert. Das mag auf den ersten Blick an Bevölkerungskontrolle mahnen, doch gemeint sind nicht Fortpflanzungsentscheidungen, sondern Zukunftsszenarien wie die Besiedlung des Weltraums oder die Erschaffung künstlichen Bewusstseins, bei denen wir größte Zurückhaltung üben sollten. Auch dies mag noch kontraintuitiv erscheinen, doch stellen wir uns vor, wir könnten ein doppelt so großes Omelas erschaffen mit doppelt so vielen glücklichen Bürgern und folglich nicht einem, sondern zwei gefolterten Kindern. Die populationsethische Asymmetrie und wohl auch unser Gewissen den Kindern gegenüber sagt, dass diese Option moralisch mindestens so schlecht, wenn nicht sogar deutlich schlechter wäre. AL-belastete Populationen zu vergrößern ist aber vergleichbar mit der Handlung, ein zweites (oder drittes oder viertes) Omelas zu erschaffen. Würden wir beispielsweise die Anzahl Menschen auf der Erde und damit auch das bestehende absolute Leid verdoppeln, käme dies der Erschaffung von Millionen von Omelas und damit Millionen von missbrauchten Kindern gleich – ein Umstand, der uns schwer zu denken geben sollte.
Omelas zeigt uns also auf, warum die Erschaffung absoluten Leids nicht mit der Erschaffung von Glück kompensiert werden sollte. Mehr Glück bedeutet nicht weniger Leid. Auch im Fall bereits existierender Personen ist diese Maxime von großer Überzeugungskraft. In Tim Scanlons “Transmitter Room Case” verunfallt ein Fernsehtechniker bei der Übertragung des Finalspiels der Fußball-Weltmeisterschaft und wird schweren Stromschlägen ausgesetzt. Um ihm zu helfen, müssten die Geräte abgeschaltet und die Übertragung des Spiels für fünfzehn Minuten unterbrochen werden. Sollten wir den Millionen Fußballfans ihr Glück gönnen und den Techniker dafür bis zum Schlusspfiff leiden lassen? Wenn er extreme Schmerzen erdulden muss, ist das schwer zu begründen. Einem einzigen Menschen absolutes Leid zuzufügen, nur um vielen anderen bereits glücklichen Menschen zu noch mehr Glück zu verhelfen, scheint in hohem Maße unmoralisch zu sein. Aus denselben Gründen schützen wir die Rechte von Minderheiten (etwa das Recht auf Leben oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit) vor der “Diktatur der Mehrheit”, selbst für den Fall, dass die Mehrheit eine Missachtung dieser Rechte fordern würde. Es scheint etwas kategorisch Gewichtiges an absolutem Leid zu geben, das seine sofortige Abwendung gebietet, und zwar unabhängig vom Glück anderer.
Etwas weniger eindeutig aber immer noch begründbar ist der Vorrang absoluten Leids gegenüber anderen kritischen Gütern, etwa der Vermeidung von (AL-freien) Todesfällen oder der Vermeidung weniger dramatischer Leidformen. Stellen wir uns vor, wir könnten nur einer Person helfen: Maria, die wir von extrem starken Fibromyalgie-Schmerzen erlösen könnten oder Todd, den wir vor einem schmerzfreien Tod bewahren könnten.. Wenn wir beide fragen und ihnen alle relevanten Informationen geben könnten, würden beide den schmerzfreien Tod dem Fibromyalgie-Leid vorziehen. Es scheint in diesem Fall schwer zu begründen, warum wir uns über ihre wohlbegründeten Präferenzen hinwegsetzen und Todd anstelle von Maria retten sollten. Auch bei weniger intensivem Leid oder abstrakteren Konzepten wie Ausbeutung, Unterdrückung oder fehlenden sozialen Aufstiegschancen scheint es zentral zu sein, was das für die Person selbst bedeutet. Ist die Situation trotz der Beeinträchtigungen erträglich? Wenn ja, dann sollte sie dem (unerträglichen) absoluten Leid anderer vorgezogen werden.
Für den Vorrang absoluten Leids sprechen auch Argumente, die ihre Überzeugungskraft nicht aus einer einzigen ethischen Theorie schöpfen, sondern aus der Kombination mehrerer Theorien. Im Gegensatz zu den meisten anderen Wissensgebieten hat die Ethik im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte wenig Konsolidierung erfahren und die Lager stehen sich heute beinahe unverändert gegenüber. Sucht man jedoch nicht die Gegensätze, sondern die Gemeinsamkeiten dieser Theorien, so sind sie sich erstaunlich einig, dass menschliches Elend zwar nicht den einzigen, aber einen substanziellen Beitrag zu jeder ethischen Deliberation leisten sollte. Es scheint plausibel, dass die größte Schnittmenge aller ernstzunehmenden ethischen Theorien mit “AL-Reduktion” beschriftet werden müsste. Beispielsweise ist absolutes Leid für Deontolog:innen Grundlage für eine klare Hilfspflicht, für Utilitarist:innen der individuell unstrittigste Faktor in der Summierung von Glück minus Leid und für Kontraktualist:innen der entscheidende individuelle Einwand gegen jede Form von Gesellschaftsvertrag, die absolutes Leid billigend in Kauf nimmt. Eine ähnliche Konvergenz lässt sich auch innerhalb der unterschiedlichen ethischen Lager beobachten. Beispielsweise gibt es zahlreiche Varianten des Utilitarismus, die jeweils unterschiedliche Vorschläge liefern, wie viel Glück im Vergleich zu Leid wiegt. Viele dieser Theorien gewichten Leid höher als Glück, manche gewichten beide gleich hoch, aber keine gewichtet Glück höher als Leid. Selbst innerhalb der noch kleineren Teilmenge der leidfokussierten Theorien, die durchaus kontrovers diskutiert werden, bildet der Fokus auf absolutes Leid den unkontroversen Kern. Der Philosoph Derek Parfit hat die optimistische Metapher geprägt, dass wir [gemeint sind die wichtigsten ethischen Denkschulen] “denselben Berg von verschiedenen Seiten her besteigen”. Eine bescheidenere, aber plausiblere Variante dieses Diktums wäre, dass unsere Wege zwar auf verschiedene Gipfel führen, sich jedoch kreuzen – an der Stelle, an der die Verringerung absoluten Leids steht.