Kann ein Land ein Bewusstsein haben oder steckt es in der Quantenphysik?

(Neue Zürcher Zeitung NZZ, 12.10.2024)

Nils Althaus und Mirko Bischofberger

Der sechste und letzte Teil unserer Serie «Spaziergänge durch
das Bewusstsein» beschäftigt sich mit den seltsamsten Theorien über das Bewusstsein.

In der Welt der kleinsten Teilchen gelten die seltsamen Gesetze der Quantenmechanik. Beispielsweise kann ein Elektron an zwei Orten gleichzeitig sein. In der Sprache der Physiker steht es dann in «Superposition». Versucht man mithilfe eines Experiments, einen Blick auf das Teilchen zu erhaschen, ist es plötzlich nur noch an einem Ort zu sehen. Der Vorgang des Beobachtens selbst bringt die Superposition zum Kollabieren, und das Teilchen entscheidet sich blitzartig für einen einzigen Standort.

Eine neue Theorie postuliert nun, dass diese gespenstischen Vorgänge für unser Bewusstsein verantwortlich sein könnten. Unter den Autoren sind klingende Namen wie Hartmut Neven, der für Google Quantencomputer baut, oder Christof Koch, der renommierte Bewusstseinsforscher. Sie schlagen vor, dass bewusstes Erleben immer dann entsteht, wenn sich irgendwo im Gehirn eine Superposition bildet.

Quantenmechanische Theorien des Bewusstseins sind und waren schon immer spekulativ. Die bekannteste wurde 1989 vom Physiknobelpreisträger Roger Penrose formuliert. Er schlug in gewisser Weise die Umkehrung der neuesten Theorie vor: Bewusstes Erleben entstehe immer dann, wenn eine bestehende Superposition im Gehirn kollabiere. Sein Vorschlag stiess auf reichlich Kritik. Das Gehirn sei zu warm, feucht und verrauscht, um solche Quantenzustände hinreichend lange aufrechtzuerhalten, meinte etwa Max Tegmark, ebenfalls ein renommierter Physikprofessor.

Der Philosoph David Chalmers doppelte nach: Quantentheorien wiesen die gleichen Schwächen auf wie konventionelle Theorien. Sie erklärten nicht, wie aus etwas Physikalischem etwas subjektiv Erfahrbares entstehen könne. Beide Kritikpunkte könnte man auch gegen die neue Version von Neven und Koch anführen.

Warum also so exzentrische Rückgriffe auf die Quantenmechanik? Ist Bewusstsein nicht einfach das, was entsteht, wenn gewisse Hirnregionen aktiv sind? Populäre Auffassungen des Bewusstseins wirken auf den ersten Blick simpler und zutreffender, doch der Eindruck täuscht. Auch sie haben reichlich seltsame Implikationen.

Der Funktionalismus kann vieles erklären

Die Theorie, die unserem alltäglichen Verständnis wohl am nächsten kommt, beschreibt das Bewusstsein als eine Art Software, die auf einer biologischen Hardware – dem Gehirn – läuft. Wie Computersoftware empfängt das Bewusstsein Inputs (etwa Sinneseindrücke), verarbeitet diese mit bestehenden Informationen und generiert Outputs (etwa Verhaltensweisen).

Dieser sogenannte Funktionalismus trägt der Tatsache Rechnung, dass Bewusstsein mit unterschiedlichen Gehirnarchitekturen möglich zu sein scheint. Hunde, Papageien und Menschen haben trotz der unterschiedlichen neurologischen Hardware alle ein Bewusstsein. Dasselbe gilt für Epilepsiepatienten, denen im Kindesalter eine ganze Hirnhälfte entfernt wurde. Deren inneres Erleben erscheint nicht wesentlich anders als jenes gesunder Menschen – allem Anschein nach kann die Software auch auf der Hälfte der Hardware betrieben werden.

Der Funktionalismus kann vieles erklären. Allerdings impliziert er auch, dass Nationalstaaten wie die Schweiz ein Bewusstsein haben könnten. Denn das, was Gehirne so besonders macht, ist bei Nationalstaaten ebenso zu finden. Auch sie empfangen Inputs, verarbeiten Informationen und generieren Outputs. Fragt man Neurowissenschafter und Philosophinnen, was die herausragenden funktionellen Merkmale des menschlichen Gehirns seien, erwähnen sie oft die Verarbeitung komplexer Informationen, flexible und zielgerichtete Reaktionen auf die Umwelt oder die Selbstrepräsentation des Gehirns.

Die Schweiz weist all dies ebenfalls auf. Die Prozesse laufen zwar – je nach Kanton – deutlich langsamer ab, doch es scheint keinen offensichtlichen Grund zu geben, warum Bewusstsein nicht auch mit langsamerer Hardware möglich sein sollte. Die gleiche Computersoftware kann schliesslich auch auf unterschiedlich schnellen Prozessoren betrieben werden.

Unser alltägliches Verständnis von Bewusstsein suggeriert also, dass Nationalstaaten ein solches haben könnten – eine ziemlich seltsame Vorstellung. Ebenso seltsam mutet das Bewusstsein quantenmechanischer Superpositionen an. Auch die übrigen Theorien sind seltsam: etwa dass das Bewusstsein ein fundamentaler Baustein des Universums sein könnte, wie es Panpsychisten glauben, oder dass es eine Illusion sei und gar nicht wirklich existiere. All diese Ideen sind Bestandteil gegenwärtiger akademischer Debatten.

Es steht viel auf dem Spiel

Die geballte Seltsamkeit sämtlicher Bewusstseinstheorien hat den Philosophen Eric Schwitzgebel dazu veranlasst, seinem neuesten Buch den Titel «Die Seltsamkeit der Welt» («The Weirdness of the World») zu verpassen. Er nimmt darin eine Metaperspektive ein. Anstatt seine bevorzugte Theorie mit Argumenten zu unterfüttern, schreitet er das gesamte Terrain der Bewusstseinsforschung ab und kommt zu dem nüchternen Schluss: «Es muss etwas zutreffen, das fast zu seltsam wirkt, um es zu glauben. Welche dieser seltsamen Theorie richtig ist, ist jedoch aus heutiger Sicht kaum zu entscheiden.»

Schwitzgebels Fazit könnte dazu verleiten, den Kopf in den Sand zu stecken und sich im Schlummer der Unwissenheit zu wiegen. Doch dafür steht zu viel auf dem Spiel. Das Bewusstsein entscheidet wesentlich über den moralischen Status eines Wesens. Dass Katzen ein bewusstes Erleben haben und Fussbälle nicht, ist der Hauptgrund, warum wir mit Letzteren Freistösse treten dürfen, mit Ersteren nicht.

Wir müssen die Unwissenheit also zum Anlass nehmen, weiterzudenken. Eine Möglichkeit besteht darin, abzuschätzen, in welche Richtung der potenzielle Irrtum schwerer wiegt. Sprechen wir bewussten Lebewesen fälschlicherweise ein Bewusstsein ab, könnten wir extrem viel Leid verursachen. Sprechen wir unbewussten Lebewesen fälschlicherweise ein Bewusstsein zu, würden wir sie besser behandeln als nötig.

Diese Asymmetrie legt nahe, Wackelkandidaten wie Insekten oder Krebstiere nicht voreilig in die Kategorie der Fussbälle zu versenken. Und sie verdeutlicht den Wert, den Bewusstseinsforschung haben kann – nebst der geheimnisumwitterten Seltsamkeit, die sie der Welt schenkt.

Illustration Olivia Meyer / NZZ