Tintenfische haben in jedem Arm eine Art Gehirn, verfügen sie auch über ein mehrfaches Bewusstsein?

(Neue Zürcher Zeitung NZZ, 10.8.2024)

Nils Althaus und Mirko Bischofberger

Der dritte Teil unserer Serie «Spaziergänge durch das Bewusstsein» beschäftigt sich mit den äusserst intelligenten Kraken, die Denkaufgaben lösen können und Werkzeuge benutzen.

Eine Krake wird von einem Katzenhai gejagt. Plötzlich ändert die Krake die Richtung, katapultiert sich auf den Rücken des Hais und saugt sich fest. Der ahnungslose Hai schwimmt weiter durch das Korallenriff auf der Suche nach seiner Beute, die nun gemächlich auf seinem Rücken mitreitet. Als er an einem zerklüfteten Felsen vorbeischwimmt, streift sich die Krake geräuschlos ab und verschwindet im sicheren Versteck.

Die Szene aus dem Netflix-Dokumentarfilm «Mein Lehrer, der Krake» ist ein Hinweis von mehreren darauf, dass Tintenfische fremde Perspektiven einnehmen können. Wie sieht die Welt aus der Sicht einer Krake wohl aus? Haben Kraken ein Bewusstsein?

Die wissenschaftliche Bestätigung der Perspektivenübernahme steht gegenwärtig noch aus. Bekannt ist hingegen, dass Kraken äusserst intelligente Weichtiere sind. Sie können Denkaufgaben lösen, Werkzeuge benutzen und von Artgenossen lernen. Gleichzeitig sind sie auch fremdartige Wesen. Ihr lappenartiges Gehirn ist um die Speiseröhre gewickelt und hat wenig Gemeinsamkeiten mit unserem.

Seine Hirnströme konnten im vergangenen Jahr erstmals aufgezeichnet werden – bis dahin hatten sich die Versuchstiere geschickt jeglicher Apparatur entledigt. Die Messungen zeigten eine tieffrequente elektrische Schwingung, die bei keiner anderen Tierart beobachtet worden war.

Die Vorstellung zweier Seelen existiert auch beim Menschen

Trotz seiner Leistungsfähigkeit beherbergt das Gehirn weniger als einen Drittel aller körpereigenen Nervenzellen. Die Arme der Krake enthalten die anderen zwei Drittel und zeigen ein erstaunliches Eigenleben. Ihr Nervensystem scheint eigene Erinnerungen zu bilden: Informationen über die Aktivität des Arms und seiner Saugnäpfe können minutenlang gespeichert und zum Lernen bereitgestellt werden. Trennt man einen Arm ab (was zugegebenermassen brutal ist), so kann der abgetrennte Arm immer noch Objekte greifen und sich an ihnen festsaugen.

Diese Befunde veranlassten Forschende zu der Hypothese, dass Kraken nicht nur über ein Bewusstsein verfügen könnten, sondern gleich über deren neun: eines im Gehirn und je ein weiteres in den acht Armen. Die These des Mehrfachbewusstseins ist jedoch äusserst umstritten. Schmerzsignale etwa werden beim Kraken nicht in den Armen, sondern im Gehirn verarbeitet. Es scheint also nicht jeder Arm für sich Schmerzen zu empfinden, sondern die Krake als Ganzes.

Die Vorstellung zweier Seelen – ach! – in einer Brust existiert auch beim Menschen. In den Anfängen der Gehirnmedizin wusste man sich nämlich bei schweren Fällen von Epilepsie nicht anders zu helfen, als die wichtigste Verbindung der beiden Hirnhälften, das Corpus callosum, mittels Skalpell zu durchtrennen. Damit wurden die epileptischen Nervengewitter auf eine Hirnhälfte begrenzt. Die Operation führte zu sogenannten Split-Brain-Patienten und hatte unerwartete Folgen.

Positioniert man zum Beispiel das Wort «Hut» links aussen im Sehfeld eines solchen Patienten, behauptet er, nichts zu erkennen. Trägt man ihm jedoch auf, das Gesehene mit der linken Hand zu zeichnen, skizziert er einen deutlich erkennbaren Hut. Grund dafür ist die fehlende Verbindung der beiden Hirnhälften. Beim Split-Brain-Patienten bleibt die Information «Hut», die vom linken Auge an die rechte Hirnhälfte übermittelt wird, auf der rechten Seite stecken.

Bei einem gesunden Menschen wandert sie hingegen über das Corpus callosum in die linke Hirnhälfte. Dort liegen die zentralen sprachlichen Funktionen, und «Hut» kann in Worte gefasst werden. Woher weiss dann die linke Hand vom Hut? Sie empfängt ihre Befehle direkt von der sprachlich unterbegabten rechten Hirnhälfte. Diese hat den Hut «gesehen» und initiiert die Zeichnung – ganz ohne Hilfe der linken Hirnhälfte.

Es ist verlockend, die beiden Hirnhälften als Sitz zweier getrennter Individuen zu verstehen, die jeweils eigene Gefühle, Wünsche und Wahrnehmungen haben. Allerdings konnten einige Befunde zu Split-Brain-Patienten in einer neueren Studie nicht reproduziert werden. Die untersuchten Patienten gaben die gesehenen Wörter sprachlich und mit beiden Händen gleich gut wieder. Sie empfanden sich auch als ein und dieselbe Person.

Also alles nur ein Hirngespinst? Vielleicht nicht, meint die Philosophin Elizabeth Schechter. Gerade wenn die beiden Bewusstseine wirklich getrennt sind, wäre es eigentlich zu erwarten, dass sich ein Split-Brain-Patient als eine einzige Person wahrnimmt. Aufgrund des «Problems des Fremdpsychischen» kann keine Hirnhälfte der anderen in den (halben) Kopf sehen. Die Situation entspräche also im Wesentlichen der zweier Menschen, die sich unglücklicherweise einen Körper teilen müssen und mit demselben Mund sagen: «Ich bin eine Person.» Keine würde lügen, denn beide empfänden sich ja als eine Person – mit einem gemeinsamen Mund.

Babys wurde lange kein Schmerzempfinden zugesprochen

Fremdartige Bewusstseinsformen wie jene von Kraken oder Split-Brain-Patienten haben uns in der Vergangenheit schon mehrmals zu groben moralischen Fehlern verleitet. Der französische Philosoph René Descartes sprach im 17. Jahrhundert gleich sämtlichen Tieren die Empfindungsfähigkeit ab. Gequälte Hunde, die jaulen, empfänden ebenso wenig Schmerzen wie eine Orgel, deren Tasten man drücke. Operationen an lebendigen Exemplaren durchzuführen, sei deshalb unproblematisch.

Derselbe Fehler ist uns bei vielen anderen Tierarten unterlaufen, die als gefühllose Automaten galten, bis neue Erkenntnisse diese Ansicht korrigierten. Nicht einmal unser eigener Nachwuchs blieb von ihm verschont: Bis in die achtziger Jahre operierte man Babys vielerorts ohne Anästhesie, weil man ihnen kein Schmerzempfinden zuschrieb – dafür oft mit einem Muskelrelaxans, damit sie sich während der Operation nicht bewegten.

Begehen wir Descartes’ Fehler auch heute noch? Es ist nicht auszuschliessen. Ein Kandidat ist der krakenjagende Hai, der lange Zeit als gefühllose Tötungsmaschine galt. Vieles deutet darauf hin, dass auch Fische Empfindungen haben. Vielleicht sollten wir uns bei der nächsten Begegnung mit einem Hai also nicht nur um uns sorgen, sondern auch um den Hai – und uns fragen, ob wir vielleicht noch immer auf Descartes’ trügerischen Spuren wandeln.

Illustration Olivia Meyer / NZZ