Wie ist es, ich zu sein?

(Neue Zürcher Zeitung NZZ, 13.7.2024)

Nils Althaus und Mirko Bischofberger

Selbst Insekten sollen ein Bewusstsein haben. Dabei ist nicht einmal klar, ob das subjektive Empfinden des Menschen bloss eine Illusion darstellt.

Der Kreis der Lebewesen, denen Bewusstsein zugeschrieben wird, hat sich in den letzten Jahren stetig vergrössert. Erst kürzlich, im April, einigten sich knapp dreihundert Forschende darauf, dass bei allen Wirbeltieren und auch vielen wirbellosen Tieren wie Tintenfischen, Krebsen oder Insekten “eine realistische Möglichkeit bewusster Erfahrung” bestehe. Bei Säugetieren und Vögeln sei die Evidenz für ein Bewusstsein sogar “stark”. Dies zu ignorieren sei bei Entscheidungen, die diese Tiere betreffen, unverantwortlich, so der Wortlaut der New York Declaration on Animal Consciousness. Während sich der Bewusstseinskreis am einen Ende der Tierskala also erweitert, so scheint am anderen Ende der Skala eine unumstössliche Wahrheit zu stehen: Wir Menschen sind zu 100% bewusst. Doch stimmt das wirklich?

Der kürzlich verstorbene Philosoph Daniel Dennett hätte an dieser Stelle wohl Zweifel angemeldet. Für den bekannten Amerikaner war unser subjektives Erleben eine Art Illusion. Er verglich das menschliche Bewusstsein mit der Benutzeroberfläche eines Computers. Das Innere eines solchen Geräts sei viel zu verwirrend und komplex, um sinnvoll damit interagieren zu können. Deshalb hätten findige Softwareingenieure die Illusion eines kleinen Schreibtischs (des “Desktops”) erschaffen, der auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sei. Er ermögliche es uns, die Vorgänge im Inneren des Computers zu verstehen und zu steuern. Gemäss Dennett erfüllt das Bewusstsein eine ähnliche Funktion. Es sei eine vereinfachte Benutzeroberfläche für die reale Welt. Diese bombardiere uns ununterbrochen mit Informationen: Lichtstrahlen und Schallwellen aus allen Richtungen und Frequenzbereichen, Gasteilchen, die auf uns einprasseln (jedes mit einer anderen Geschwindigkeit und Richtung) und tausende von chemischen Verbindungen, die unsere Geruchsrezeptoren stimulieren. Das Bewusstsein vereinfache diesen unübersichtlichen Informationswirrwarr und liefere eine aufgeräumte, verständliche Version der Realität mit Objekten, Farben, Formen und Tönen – The Real World for Dummies sozusagen. 

Dennett konnte seine Theorien eloquent verteidigen und mit treffenden Beispielen und Metaphern illustrieren, doch er vermochte nicht alle zu überzeugen. Illusionen funktionieren in der Regel so, dass sie jemanden täuschen. Doch wen täuscht Dennetts Bewusstseinsillusion? Das wahre Ich? Müsste dieses dann nicht ein Bewusstsein haben, um überhaupt getäuscht werden zu können? Das vielleicht grösste Problem von Dennetts Theorie ist, dass sich die Illusion für uns alle so unglaublich echt anfühlt. In gewisser Weise ist sie echter als alle naturwissenschaftlichen Experimente und Beschreibungen zusammengenommen. Diese müssen sich zuerst ihren Weg in unser Bewusstsein bahnen, bevor sie für uns überhaupt echt (oder unecht) wirken können. Mit anderen Worten: Wenn wir Experimente durchführen, beobachten wir nicht die Realität. Was wir eigentlich beobachten, ist unser Bewusstsein, das uns ein Abbild der Realität liefert. Das Bewusstsein selbst hingegen wirkt immer echt. David Chalmers, der vielleicht prominenteste lebende Philosoph des Geistes, hat es so formuliert: “Die bewusste Erfahrung ist das Vertrauteste und zugleich das Geheimnisvollste auf der Welt.” Vertraut, weil es das einzige ist, das wir direkt erfahren können. Geheimnisvoll, weil niemand wirklich versteht, wie es funktioniert und warum es existiert.

Die fundamentale Frage ist nicht etwa, welche Gehirnareale für bewusste Erfahrungen aktiviert werden oder welche Signale die Nervenzellen dabei aussenden. Das ist gemäss Chalmers das “easy problem of consciousness” und darin macht die Wissenschaft stetige Fortschritte. Die entscheidende Frage ist, wie sich physikalische Prozesse überhaupt wie etwas anfühlen können, also das “hard problem of consciousness”. Wenn man es sich überlegt, ist es eigentlich vollkommen verrückt. Sämtliche Prozesse, die im Gehirn ablaufen, von elektrischen Signalen bis zur Ausschüttung von Neurotransmittern, könnten genauso gut ablaufen, ohne dass irgendein fühlendes Wesen daran teilnehmen würde. Nehmen wir das Beispiel des Ekels: Die flüchtigen Stoffe eines schimmelnden Joghurts treffen auf unsere Geruchsrezeptoren und lösen Nervenimpulse aus, die in das Gehirn wandern. Dort wird diese Information aufgenommen und verarbeitet, worauf ein Nervensignal an die Gesichtsmuskeln gesendet wird, die wiederum die Nase rümpfen. Andere Nerven steuern den Mund an, der sich dadurch verzieht, oder die Beinmuskulatur, die uns einen Schritt zurückweichen lässt. All diese Vorgänge schützen uns und unsere Mitmenschen vor den gesundheitsgefährdenden Stoffen im Schimmel. Sie würden ihren Zweck aber ebenso erfüllen, wenn niemand dabei Ekel empfinden oder sonst eine bewusste Erfahrung machen würde. So gesehen ist es vollkommen mysteriös, warum Pendeluhren, Wasserfälle oder Pilze, die auch voller Teilchen, Kräfte und Vorgänge sind, kein Bewusstsein haben, wir hingegen schon.

Was bedeutet das alles? Und was sollen wir jetzt über das Bewusstsein von Tintenfischen, Krebsen und Insekten denken, wenn wir nicht einmal wissen, ob wir selbst ein Bewusstsein haben? Am vielversprechendsten ist ausnahmsweise ein intellektuelles Ausweichmanöver. Die relevante Frage ist vielleicht gar nicht, was das Bewusstsein genau ist, sondern wie es ist. Es scheint irgendetwas zu geben, das sich gut oder schlecht, richtig oder falsch, erwünscht oder unerwünscht anfühlt. Ob dies nun eine Illusion oder das Fundament der Welt ist, spielt womöglich keine so wesentliche Rolle. Denn auch mit der richtigen Theorie im Kopf fühlt es sich immer noch gleich an. Praktisch gesehen dürfen wir wohl darauf vertrauen, dass das Fenster, durch das wir die Welt wahrnehmen, echt ist. Und jedes Wesen, das ein solches Fenster besitzt, bedarf unserer Berücksichtigung und unseres Respekts. Dennetts Geist erinnert uns aber daran, dass selbst die grössten Gewissheiten mitunter auf wackeligen Füssen stehen können.

Illustration Olivia Meyer / NZZ